Zynisch und unverschämt sind nicht die Pflegenden mit ihren Forderungen. Die Zynischen und Unverschämten sitzen
anderswo – sie müssen nicht gesucht werden, denn sie reissen ihre Mäuler weit auf.


Sehr geehrte Politikerinnen und Politiker, sehr geehrte Bevölkerung

Schon lange vor Corona haben wir Pflegende Sie auf unsere Situation und die Probleme in unserem Arbeitsfeld hingewiesen und aufgezeigt, was dringend zu verbessern ist. Das Gesundheitspersonal, insbesondere die Pflegenden, sind mit ihren Ressourcen schon lange am Abgrund und bald einen Schritt weiter. Seit Jahren werden wir jedoch von der Mehrheit von Ihnen übergangen und beleidigend heruntergespielt – bis heute.

Die Corona-Krise demaskiert und akzentuiert nun in den Gesundheitsberufen und im ganzen Gesundheitswesen alles, was
Ihre Politik bis heute versäumt und verursacht hat. Es ist kein Zufall, dass so viele Pflegende (46%) ihren Job frühzeitig verlassen. 25% von ihnen erkranken an ihrer Arbeit und brennen aus – und das schon lange vor Corona.


Unhaltbare Bedingungen


Die Ursachen liegen schon seit langem auf der Hand. Es sind die unhaltbaren Bedingungen, unter welchen die meisten Pflegenden arbeiten müssen. Das betrifft übrigens auch viele andere Gesundheitsberufe.
Wegen dem seit Jahren bestehenden und zunehmenden Personalmangel leisten wir mehrmals pro Woche, oft täglich Überstunden. Wir werden fast routinemässig und meist sehr kurzfristig aus unseren Freitagen gerufen, weil sonst der Betrieb auf den Stationen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. So können wir unser Privatleben kaum planen, geniessen oder uns angemessen erholen.

Bei der Arbeit sind wir oft gezwungen – und dies auf eigenes Risiko – fachliche und ethische Prinzipien zu vernachlässigen oder gar gegen sie zu verstossen. Nur so können wir unsere Arbeiten wenigstens halbwegs erledigen. Als Folge davon besteht die Gefahr, dass bei den Patientinnen eine Entwicklung oder ein durch Pflegende und oder Ärzte verursachter Fehler übersehen wird. Dass das zu körperlichen Schäden oder gar zum Tod von Patienten führen kann, ist beinahe unvermeidlich. Mit anderen Worten: Patientinnen, ihre Angehörigen und wir müssen damit leben, dass auf diese Weise vermeidbare Komplikationen, unnötig lange Spitalaufenthalte und damit verbunden, vermeidbares Leid in Kauf genommen werden muss. Von den hohen zusätzlichen Kosten möchte ich hier gar nicht erst reden.

Auf einschlägigen Stationen laufen wir ausserdem Gefahr, von körperlicher Gewalt betroffen zu sein (v.a. Notfallstationen, Psychiatrie, Demenzstationen etc.). Die daraus entstehende chronische emotionale Belastung wäre vermeidbar, wird aber von Ihnen in Kauf genommen, was erwiesenermassen einer der häufigsten Burnout-Faktoren ist.

Alleine was ich bis hier hin schon geschildert habe, stösst gegenüber den Patientinnen und dem Personal selbst, hart an die Grenzen von struktureller Gewalt, weil Menschen einer Struktur ausgeliefert sind, die erstens, so nicht sein müsste und zweitens, um die sie nicht herumkommen. Aber weiter.

Wir Pflegende bekommen alles ab, womit Patientinnen, Ärztinnen und andere Interessenvertreterinnen unzufrieden sind oder an Forderungen an uns stellen – ob wir nun dafür verantwortlich und zuständig sind, oder nicht: Es interessiert niemanden. Versäumnisse der Ärztinnen oder Folgen einer falschen Politik – wir haben es zu erkennen, aufzufangen, zu
korrigieren, zu ertragen und still dafür zu sorgen, dass der medizinische Betrieb weiterläuft, denn dieser ist entscheidend von uns abhängig.

Das nötige Zutrauen und die entsprechenden Kompetenzen, um das zu bewältigen bekommen wir aber nicht. Das ist skurril und kränkend zugleich.


Maulkörbe, Druck und Drohungen


Zunehmend werden wir von unseren Arbeitgebern unter Druck gesetzt, solche Missstände nicht anzusprechen. Wer reklamiert oder auf seine Rechte beharrt, z.B. das Inkonvenienzen ausbezahlt oder Ruhezeiten eingehalten werden etc., muss damit rechnen aus dem Betrieb geekelt zu werden. Kolleginnen, die die Belastungen auf längere Sicht nicht mehr tragen können, werden unterschwellig mit dem Verlust des Arbeitsplatzes bedroht, was die Belastung noch erhöht. Das kann für ortsgebundene Menschen mit Familie verheerende Folgen haben. Es herrscht ein Klima der Angst, der Verunsicherung und des Mobbings. Viele von uns befürchten ihren Job zu verlieren, wenn sie sich politisch äussern, womit uns auch subtil gedroht wird. Darum findet sich auch kaum jemand, der etwas in Persona zu den Umständen sagen will.

Aber damit nicht genug: Wir sollen wegen des Personalmangels, solange wir asymptomatisch sind, weiter zur Arbeit gehen, wenn wir positiv auf Corona getestet wurden. Privat aber müssen wir aber in Quarantäne bleiben.

Unsere Arbeitsrechte wurden ausser Kraft gesetzt, um uns zu verpflichten 12-Stunden-Schichten zu leisten. Die dabei unverschuldet angehäuften Minusstunden, hätte man uns am liebsten abgezogen – auch dagegen mussten wir kämpfen.

In einem Heim für Menschen mit Beeinträchtigungen im Kanton Thurgau, sollen Pflegende mit Plastik-Regenmänteln (!) von Coop und in einem ebenfalls thurgauischen Altersheim, bis vor einigen Tagen Spitalnachthemden (!) tragen, um CoronaFälle zu pflegen (Die Betroffenen sind mir persönlich bekannt. Einige fürchten sich davor eine Anzeige zu erstatten und darum ihre Stelle zu verlieren).

Das alles bewältigen wir in Früh-, Spät-, Nacht-, Wochenend- und Feiertagsdiensten, ohne dass wir unsere freien Tage und zuverlässig geniessen können. Zunehmend hört man von Kolleginnen, die ihre Ferien kurzfristig verschieben oder gar abbrechen mussten.


…und dabei verdienen wir doch noch ganz gut – oder?


Eine diplomierte Pflegefachperson HF (mit Abschluss einer höheren Fachschule) arbeitet bei einem 100%-Pensum für ca. 61’000 bis maximal 98’000 Franken pro Jahr, wobei es interkantonal grosse Unterschiede gibt. Das entspricht einem Monatslohn von 4’692 bis maximal 7’538 Franken – brutto.
Ein 100%-Pensum ist aber, wegen der beschriebenen Belastung, für längere Zeit nur für die allerwenigsten von uns zu bewältigen. Darum arbeiten wir meist Teilzeit und verdienen dadurch entsprechend weniger.

Zum Vergleich: Dipl. Betriebswirtinnen HF, mit Fokus Digitalisierung, verdienen bei 100% zwischen 110’000.- bis maximal 140’000.- pro Jahr. Das entspricht einem Monatslohn von Fr. 8’462 bis maximal 10’769 Franken.

Der Vergleich hinkt aber in wesentlichen Punkten: In diesem Beruf wird mehrheitlich nur zu Bürozeiten und im Homeoffice gearbeitet, wodurch der Arbeitsweg wegfällt. Abstriche bei Freizeit, den Wochenenden oder gar den Ferien werden wohl kaum zugemutet. Sie werden auch nie den erwähnten Verantwortungen, Belastungen oder Gefahren ausgesetzt, so wie es für die Pflegenden selbstverständlich zu sein scheint.

Über das unterschiedliche professionelle Rüstzeug für das Ausführen der beiden Tätigkeiten kann ruhig diskutiert werden. Dieser Vergleich wird von grossmundigen Politikern von links bis rechts meist negiert. Immerhin: Betriebswirtinnen erhalten keinen Applaus.

Der Zynismus der Pflegenden


Wir Pflegende haben jetzt angefangen öffentlich zu protestieren. Dafür werden wir von Politikerinnen, Beamten und sogar aus der Bevölkerung zum Teil heftigst kritisiert: „Es ist der falsche Zeitpunkt…“ – „…zynisch“, – „… ist nicht nachvollziehbar!“, um nur einige wenige Schlagworte zu zitieren. Man unterstellt uns, die Corona-Situation für uns „…schamlos ausnutzen“ zu wollen. Und es wird gar von „Undankbarkeit“ gegenüber dem bekannten Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative gesprochen.

Aus Sicht des Pflegepersonals ist dieser Gegenvorschlag aber absolut inakzeptabel, weil er grundsätzliche Anliegen ausser Acht lässt. Der aus pflegefachlicher Sicht dringend benötigte Stellenschlüssel (Anzahl Fachleute), oder die ausbildungs- und verantwortungsgerechten Mitsprache-, Entscheidungs- und Handlungskompetenzen in der medizinischen Behandlung, will man uns nicht zugestehen. Gerade das wäre aber der Kern der Forderungen.

Es reicht offenbar nicht, dass das Wichtigste, das von uns bemängelt und als Lösung vorschlagen wird, seit Jahren übergangen wird. Es reicht nicht, dass man uns systematisch und über Jahre zunehmend so schlecht behandelt, dass wir davon krank werden. Nun wird weiter auch noch versucht, diese Anliegen – zum Wohle der Patientinnen natürlich – zu diskreditieren, weil sie angeblich „…zum falschen Zeitpunkt“ angebracht werden. Nur: Den richtigen Zeitpunkt gab’s noch nie!


Sparen ist etwas für Arme


Von einer besseren Bezahlung will man ebenfalls nichts wissen. Dies sei alles viel zu teuer, heisst es. Dabei liessen sich gemäss einem vom SBK vorgelegten Bericht, mit genügend qualifizierten Pflegenden bis zu 1.5 Milliarden Franken an Gesundheitskosten pro Jahr (!) einsparen.

Doch das scheint niemanden zu interessieren. Es ist offensichtlich, dass die meisten Parlamentarierinnen, die in Plena und gleichzeitig in Verwaltungsräten verschiedener Interessensgruppen sitzen, kein Interesse an solchen Einsparungen haben. Warum eigentlich nicht? Wem würden denn diese 1.5 Milliarden nachher fehlen?

Niemand hat das Recht zu gehorchen – Ein Sachzwang

Gerade die aktuelle Verschärfung zwingt uns aber dazu, ausgerechnet jetzt zu protestieren. Offenbar ist es für uns die einzige Chance und Möglichkeit, dass Sie uns endlich wahrnehmen.
Dass Sie das bis heute aber immer noch nicht tun wollen, ist nicht nachvollziehbar. Das ist an sich eine zynische Unverschämtheit – nicht, dass wir protestieren!

Mutter Theresa ist tot und Liliane Juchli ist pensioniert

Wenn Sie nicht bald anfangen, tiefgreifende und wirksame Verbesserungen in unserem beruflichen Alltag einzuführen, werden Ihnen noch mehr Gesundheitsfachpersonen davonlaufen als es bis jetzt schon der Fall ist. Wir Pflegende sind längst keine Klosterschwestern mehr, wir können heute mit unserem Beruf aufhören und das Gesundheitswesen verlassen. Und spätestens dann haben Sie noch ganz andere Probleme, als Sie sie jetzt schon glauben zu haben. Bald werden Sie, wie heute im Kanton Luzern, ständig jeden aufbieten und zusammenkratzen müssen, der noch halbwegs ein Pflaster kleben kann.

Wenn Laien und Profiteure diktieren

Die fehlenden Entscheidungen betreffen die Gesundheit, das Schicksal und das Leben aller Menschen in unserem Land. Sie wären darum gut beraten, sich künftig mit ihren Beschlüssen in erster Linie am Wissen und den Erfahrungen von Gesundheitsfachpersonen zu orientieren. Wirtschaftsfachleute sind in unserem Fach absolute Laien, die selten wissen wovon sie reden, weil sie dafür nicht qualifiziert sind.

Hören Sie endlich auf, unserer Expertise unterschwellig zu misstrauen! Sie sind und werden so oder so von uns abhängig. Welche Grundlage wollen Sie uns also bieten?

Gesundheit, Schicksal und das Leben von Menschen als Markt und Geschäft zu sehen, ist eine perverse und misanthrope Prämisse. Mit ihr haben Sie es ganz direkt zu verantworten, dass Menschen wegen dem Profitinteresse anderer unnötig kränker werden, länger krank bleiben und früher sterben. Und es ist ausserdem kein Naturgesetz, das Gesundheitswesen als Markt und Geschäft zu sehen.
Viel mehr beinhaltet das Entscheiden über Menschen auch eine ethisch-moralische Komponente, die aber unter dem profitorientierten Blickwinkel zunehmend vergessen wird. Darum müssen Sie diese Marschrichtung dringend revidieren – an dieser können Sie nicht mehr mit gutem Gewissen festhalten.

Lasst mal die Profis ran!

Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss neu überdacht und seine Organisation wieder in die Hände der Profis und Expertinnen im Feld gebracht werden, namentlich in die der Gesundheitsfachpersonen. Es kann nicht sein, dass Fachfremde den Haupteinfluss in unserem Arbeitsfeld haben. Es zeigt sich ja spätestens jetzt, dass diese mit ihren fehlgeleiteten Ansätzen versagt haben, und zwar kläglich!

Es braucht viel mehr Pflegende und Ärzt*innen. Wir brauchen in der Pflege und den anderen therapeutischen Berufsgruppen Arbeitsbedingungen, die diese Bezeichnung auch verdienen.
Bessere Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sind ein Muss. Mehr Kompetenzen und Rechte sind dringend erforderlich, und dass eine gerechte Entlohnung, wie sie in anderen Branchen normal ist, zur Selbstverständlichkeit wird.

Die Pflege ist ein system- und behandlungsrelevanter Part!


Pflegende müssen darum zwingend und gleichberechtigte Einsitze in Geschäftsleitungen, Entscheidungsgremien, Krisenstäben, Gesundheitskommissionen und Führungsorganen von Gesundheitseinrichtungen und Behörden erhalten. Ihr Blickwinkel muss einbezogen und genutzt werden, weil sonst weiterhin relevante Aspekte, die das ganze Gesundheitssystem betreffen verpasst werden.

Ebenso gehören zwingend und gleichberechtigte Einsitze von Personalkommissionsmitgliedern in die Geschäftsleitung von
Gesundheitseinrichtungen (Spitäler, Kliniken, Heimen etc.), aus denselben Gründen und selbstverständlich dazu!

Es ist Zeit zum Umdenken


Sorgen Sie für alternative Modelle, die die Finanzierung und die Organisation des Gesundheitswesens tatsächlich auch ermöglicht und verbessert! Die Bevölkerung muss wieder vom Gesundheitswesen profitieren können und nicht wie jetzt, malignerweise das Gesundheitswesen von der Bevölkerung!


Alain R. Müller
Seit 20 Jahren dipl. Pflegefachmann HF
Initiant und Aktivist im Pflegedurchbruch.com