Von Alain Müller, vom 26.06.20

Sehr geehrte Damen und Herren des Ständerats

Mein Name ist Alain Müller. Ich arbeite seit 20 Jahren als Dipl. Pflegefachmann HF, Schwerpunkt Psychiatrie, mit Zusatzfunktion Berufsbildner. Ich würde Ihnen gerne von meinem beruflichen Alltag berichten. Bitte entschuldigen Sie mein langes Schreiben. Ich hoffe, dass Sie sich trotzdem die Zeit nehmen, es ganz zu lesen.

Krisenintervention

Bis letzten Monat arbeitete ich in einer Krisenintervention, die ich einst mitbegründet und mit aufgebaut habe. Meine Tätigkeit umfasste dort unter anderem die Betreuung des Krisennotrufes, also die telefonische psychiatrisch-psychologische Beratung und Triage von Anrufenden und deren bedarfsmässigen Zuführung zur bestmöglichen Behandlung und wenn nötig veranlasste ich die Zuweisung und Aufnahme zur stationären Behandlung. Ich führte ambulante Beratungs-, Aufnahme- und Entlastungsgespräche durch, sowie die ambulante und vorstationäre psychiatrische Abklärung von Patienten, inkl. deren Aufnahme, Erstmedikation und Einschätzung des Suizidrisikos. Das Verfassen von Eintrittsberichten und psychopathologischen Befunden gehörten ebenfalls und selbstverständlich dazu.

Parallel war ich – oft mit nur einer Kollegin oder einem Kollegen – für die bis zu 24 stationär aufgenommenen Patientinnen und Patienten Zuständig, die ihre Krise ambulant nicht mehr bewältigen konnten. Häufig waren sie emotional dermassen erschöpft, dass sie suizidgefährdet waren und darum besondere Aufmerksamkeit forderten, weil das Suizidrisiko bei solchen Patienten stringent und engmaschig überwacht werden muss. Die meisten von ihnen waren Menschen wie Du und ich und hätten nie damit gerechnet, einmal „soweit zu kommen“.

Belastendes Arbeiten in der Pflege

Leider habe ich in diesen 12 Jahren, in denen ich dort Tätig war, viele Berufskolleginnen und Berufskollegen aus anderen Bereichen und Institutionen behandeln müssen, die zunehmend gesundheitliche Probleme erlitten, oder schlicht an den Belastungen ihres Berufes in der Pflege zerbrachen. So habe ich aus verschiedenen Fachgebieten mitbekommen, wie belastend das Arbeiten in der Pflege weit herum, grundsätzlich und zunehmend ist.

Viele meiner erschöpften und sich darum in Behandlung befindenden Kolleginnen und Kollegen hatten erhebliche Schlafprobleme, Ängste und körperliche Symptome. Der Druck, die Gefahr, bei ihrer Arbeit Fehler zu machen, oder wichtige Hinweise bei ihren Patientinnen und Patienten zu übersehen und damit verantwortlich für den Schaden einer anderen Person zu sein, wurde für manche – zu viele, als von Einzelfällen reden zu können – über die Zeit hinweg zu gross.

Dabei war es bei mir auf der Krisenintervention kaum besser. Teils mehrfach pro Monat wurde man aus seinem wohlverdienten Frei gerufen, weil wegen Personalmangels und Krankheitsausfällen der Dienstplan in nahezu jeder Woche, angepasst werden musste. Ferienzeiten und Festtage verschärften die dienstliche Situation jeweils zusätzlich.

Fehlerrisiko steigt

Im Vollbetrieb, mit einer dermassen minimalen und stark belasteten Besetzung – also in einer Schicht nur zu zweit, statt zu dritt oder zu viert – steigt das Risiko einer Fehlmedikation, einer übersehenen, sich anbahnenden suizidalen Handlung oder einer anderen, zu übersehenen Risikosituation erheblich. Bei eintreten solcher Szenarien, sind die Patientinnen und Patienten, wie auch die Pflegenden wiederum die Leidtragenden und Kosten hat man damit grad auch keine gespart.

Abgesehen davon ist es noch ein eigentümliches Gefühl – meine Damen und Herren – wenn man selbst in einer Arbeitssituation steckt, die genau das in einem auslöst, wie das, was Ihnen der Mensch berichtet, den Sie gerade in Behandlung haben – gerade, wenn es sich um eine erschöpfte Berufskollegin oder einen Berufskollegen handelt. Das akzentuiert natürlich das herangetragene Problem ein wenig.

Gleichzeitig ist man neben dem gerade geschilderten Druck, immer wieder drohender Gewalt ausgesetzt, wenn Patientinnen oder Patienten aggressiv werden, weil sie zu krank oder intoxikiert sind. In solchen Fällen – was glauben Sie: Wie lange fühlt es sich an, bis endlich die alarmierte Polizei vor Ort ist, um Sie zu unterstützen? Es ist klar, dass in solche, Situationen, die übrigen teils suizidalen Patientinnen und Patienten über längere Zeit hinweg nicht betreut und unbeaufsichtigt bleiben – man kann sich nicht um alles gleichzeitig kümmern – man kann nur hoffen, dass man nachher nicht noch die Sanität braucht.

Burnout des Pflegepersonals

Beleidigungen und Abwertungen wie, dass man ja als Pflegefachperson keine wirkliche Fachperson darstellt, schluckt man darüber hinaus, routinemässig und einfach runter. Diese Haltung schlägt einem dann auch von nüchternen und gesunden Leuten entgegen.

Leider habe ich einige meiner eigenen Kolleginnen und Kollegen ins Burnout gehen sehen. Das ist um so bitterer wenn man bedenkt, dass es ’nur‘ politische Gründe waren, die zu diesen Umständen geführt haben und eigentlich nicht hätten sein müssen.

Diskrepanz Theorie und Praxis

Als Berufsbildner bilde ich neben diesem ganz normalen Wahnsinn, angehende Berufsleute aus. Irgendwie habe ich gegenüber diesen jungen Leuten – wie Sie sicher langsam verstehen können – zunehmend ein schlechtes Gewissen. Es fühlt sich an, wie wenn man im Voraus schon weiss, dass man ein Versprechen nicht einhalten kann.

Ich weiss, dass viele von ihnen, wegen den genannten Gründen, ihren Beruf bald nach Abschluss wieder verlassen werden und einige von ihnen dem Druck nicht standhalten können. Es ist ohnmächtig, wenn man den jungen Leuten einen Beruf beibringt, den sie in der ‚wahren‘ Praxis kaum je so umsetzen werden, wie es an der Lehrabschlussprüfung gefordert, oder im Studium gelehrt wird (einer der wichtigsten Marker für Burnout übrigens) und schliesslich einen Beruf, für den sie nie wirklich geachtet werden. Am liebsten würde ich ihnen jeweils sagen: „Komm! Lern was Anständiges, wo Du anständig verdienst und respektiert wirst!“ (Ganz ehrlich: Das habe ich auch schon gemacht).

Neben den personellen Engpässen im Pflegedienst ztinnen und Ärzte aus allen Herrenländer bei uns. Immer öfter waren sie weder fachlich noch sprachlich so leistungsfähig, wie etwa ein hiesiger Arzt. Diese Defizite mussten wiederum wir Pflegenden kompensierten, was uns zusätzlich belastet. Ganz am Rande: Dies führt den hier herrschenden Numerus clausus schlicht ad absurdum.

Dankbarkeit für die immer häufiger nötigen Hinweise auf medizinische Fehlverordnungen oder für das Troubleshooting bei nicht ganz geglückten ‘Therapiegesprächen’ zwischen Arzt und Patient? Kaum. Der Umgang mit Hierarchie und Kooperation ist offenbar nicht auf der ganzen Welt gleich.

Nun habe ich meine geliebte Stelle nach12 Jahren und langem Ringen verlassen. Jetzt arbeite ich in einem anderen Haus, in einem anderen Kanton mit Menschen, die gegen ihre Sucht kämpften. Leider nehme ich dafür eine Lohneinbusse von 500.-/ Monat in Kauf. Das ist mit einem ehemaligen Nettolohn bei 60% von 3800.-/ Monat recht schmerzlich. Eigentlich kann ich mir die neue Arbeit kaum leisten, obwohl auch diese Arbeit unserer Gesellschaft einen guten Nutzen bringt, da sie auf längere Sicht z. B. die Kriminalität und Krankheitskosten senkt.

Attraktivität des Berufes sinkt

Seit 20 Jahren arbeite ich jetzt als Pflegefachmann und sehe, wie der Status, das Ansehen und die Attraktivität der Pflege als Beruf erodiert. Seit 20 Jahren wird das Arbeiten im Pflegefach mühsamer und mühsamer und es muss noch mehr gespart und müssen noch mehr und kränkere Patienten mit weniger Personal und mehr administrativem Aufwand behandelt werden.

Indes überbläht sich eben dieser administrative Apparat, mit immer neuen Zertifikatvorgaben, Controllingaufgaben, Rechtfertigungs- und Abrechnungsansprüchen. Dafür wurden und werden extra neue Stellen auf Kosten von Pflege- und Ärztestellen geschaffen, die nicht selten auch noch besser bezahlt werden, als die, die sie ersetzen (oder besser: verdrängen). Das ist mit Verlaub: Zum kotzen und gedanklich kaum nachvollziehbar! (Es tut mir leid, ich kann’s nicht diplomatischer sagen)

Viele Kolleginnen und Kollegen sehen darum zu, dass sie sich das nicht mehr antun müssen und verlassen das Berufsfeld, weil sie den ‘Kanal voll haben’. Ich kann sie gut verstehen und hoffe, dass ich mich ihnen, nach Abschluss meines Studiums bald anschliessen kann, wobei ich mir noch gründlich überlegen werde, ob ich mich danach überhaupt noch im Gesundheitswesen betätigen will.

Unter diesen Umständen werden langjährig erfahrene Pflegende immer seltener. Bei Berufseinsteigenden ist eine zunehmende Verunsicherung zu beobachten, weil sie sich nicht mehr an den altgedienten Pflegenden orientieren können. Wiedereinsteiger – habe ich persönlich nie gesehen, die müssen sehr selten sein.

Pflegende haben Angst

Alles in Allem wird das Klima in den verschiedenen Institutionen zunehmend ungemütlicher und auch pflegefeindlicher. Ein Indikator dafür ist, dass viele Pflegende Angst haben, ihre Situation mit ihren Arbeitsgebenden zu thematisieren. Sehen Sie dazu den Kassensturz vom 12.05.20! Niemand traut sich vor die Kamera zu treten, oder sich öffentlich zur Situation in der Pflege zu äussern – aus Angst vor Repressalien – und das in der liberalen Schweiz(!). Das sollte Sie nachdenklich machen, meine Damen und Herren!

Liebe Ständerätinnen und Ständeräte. Würde ich bemerken, oder darauf hingewiesen werden, dass ich ein ‚Jomerfüdlä‘ bin, würde ich mich reflektieren und versuchen meine Haltung zu ändern. Dass ich aber von meinen Berufskolleginnen und -kollegen immer häufiger ähnliches höre, wie das was ich Ihnen gerade geschildert habe, lässt mich kämpfen und an Sie schreiben.

Darum bitte ich Sie: Setzen Sie sich ein, für eine würdige Pflege in der Schweiz! Helfen Sie uns, unseren Beruf wieder mit ‚Handwerkergeist‘ und Stolz leisten zu können, weil sich eine gute Pflege lohnt! Weil eine gute Pflege effektiv Kosten spart! Vertrauen Sie uns und kommen Sie unseren Anliegen nach, wir wissen wovon wir sprechen! Ich danke Ihnen, dass Sie meine Worte gelesen haben.

Ich wünsche Ihnen alles gute und bleiben Sie gesund!

Freundliche Grüsse Alain R. Müller, Dipl. Pflegefachmann HF