Von Samuel Vögeli, vom 28.06.20

Sehr geehrte Damen und Herren des National- und Ständerates

Mein Name ist Samuel Vögeli. Ich arbeite als Pflegeexperte in der Alterspsychiatrie. Seit 20 Jahren pflege und betreue ich ältere Menschen mit psychischen und hirnorganischen Erkrankungen, berate ich Angehörige, unterstütze, coache und schule ich professionell Pflegende vor allem im stationären Langzeitbereich. Als ich vor 20 Jahren als Quereinsteiger meine erste Stelle als Pflegefachmann auf einer geschützten Demenzstation eines Pflegeheims antrat, war mir nach wenigen Tagen schon klar, dass ich mein Traumberuf gefunden habe. Ich merkte, dass mir die Arbeit mit Menschen mit Demenz grosse Freude macht und ich dafür auch eine Begabung habe. Es gelang mir beispielsweise sehr gut, mit den in ihrer ganz eigenen Welt lebenden Bewohnerinnen und Bewohnern zu kommunizieren. Ich profitierte in dieser Zeit sehr von erfahrenen und sehr kompetenten Kolleginnen und Kollegen, welche mir als Vorbilder dienten, mir positive aber auch kritische Feedbacks gaben und mich in meiner professionellen Entwicklung förderten.

Positiver Einstieg Pflegeberuf

In dem Pflegeheim, in dem ich damals arbeitete, gab es für die Pflegenden auch sehr viele Austausch- und Lerngefässe. So fanden z.B. regelmässige Fallbesprechungen statt und die Pflegenden konnten bei Bedarf jederzeit ein persönliches Einzelcoaching in Anspruch nehmen. Es gab ein umfassendes Fortbildungskonzept, welches neben Gruppenschulungen auch individuelle Lernförderung „am Bett“ (nicht nur für die Auszubildenden) und Praxisreflexion für die Teams beinhaltete. Das Gelernte konnte in der Regel auch sehr gut in der Praxis umgesetzt werden, da sich die administrativen Aufgaben (noch) in Grenzen hielten und (noch) nicht dermassen viele Bewohnerinnen und Bewohner eine weit fortgeschrittene Demenz hatten und massiv herausforderndes Verhalten zeigten.

Dieser sehr positive Einstieg in den Pflegeberuf erfüllte mich mit grossem Enthusiasmus. Ich war Feuer und Flamme für die Pflege von Menschen mit Demenz. Leider erlebte ich dann aber, wie sich die Rahmenbedingungen allmählich zum Schlechteren veränderten. Administrative Tätigkeiten nahmen im Tagesverlauf immer mehr zeitliche Ressourcen in Anspruch. Es wurde zunehmend schwieriger, für die Arbeit mit Menschen mit Demenz hinreichend qualifizierte Pflegefachpersonen zu rekrutieren. Der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit weit fortgeschrittener Demenz und herausforderndem Verhalten schon bei Eintritt nahm immer mehr zu. In der Folge verliessen immer mehr ausgerechnet der besten, erfahrensten und kompetentesten Pflegefachpersonen die Institution. Viele stiegen ganz aus der Pflege „am Bett“ aus, weil sie die zunehmende Belastung und die abnehmende Befriedigung nicht mehr zu ertragen bereit waren. Es war ein veritabler Teufelskreis.

Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Ich selbst kam nach zehn Jahren ebenfalls zum Punkt, wo ich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht mehr einfach zu ertragen bereit war. Auch ich verliess für sechs Jahre die Arbeit „am Bett“ und engagierte mich in der Schweizerischen Alzheimervereinigung für die Interessen der Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen. Gleichzeitig nahm ich das Studium der Pflegewissenschaft in Angriff, nicht zuletzt deshalb, weil ich über die geschilderten Entwicklungen mehr wissen und die erwähnte Diskrepanz besser verstehen wollte.

Die intensive Beschäftigung mit der internationalen Demenzforschung bestätigte meine Erfahrungen, welche ich als Pflegefachmann auf der geschützten Demenzstation machte. Es liegen mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Studien vor, welche zeigen, dass bestimmte Rahmenbedingungen und Interventionen die Qualität der Pflege von Menschen mit Demenz deutlich verbessern können. Es ist zum Beispiel nachweislich möglich, durch nichtmedikamentöse Interventionen depressive Symptome bei Menschen mit Demenz und auch bei Angehörigen deutlich zu reduzieren. Die Belastung von Angehörigen und von professionell Pflegenden kann signifikant verringert werden. Herausforderndes Verhalten von Menschen mit Demenz (wie etwa Agitation, Aggression oder Apathie) ist in aller Regel auch ohne Medikamente beeinflussbar.

Seit etwas mehr als fünf Jahren bin ich nun als Pflegeexperte in einer grossen psychiatrischen Klinik in der Alterspsychiatrie tätig. Meine Hauptaufgabe ist die Beratung und Schulung von Pflegeteams in den Alters- und Pflegeheimen der Region. Der grösste Bedarf besteht dabei in der Unterstützung im Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen mit Demenz aber auch anderen psychiatrischen Erkrankungen. Selbstverständlich orientiere ich mich dabei an meinen Erfahrungen, welche ich selber als Pflegefachmann auf der geschützten Demenzstation gemacht habe, sowie an der breiten wissenschaftlichen Evidenz, welche zu diesen Themen mittlerweile vorliegt. Leider ist es aber in den meisten Institutionen sehr schwierig, diese Konzepte umzusetzen. Fast überall sind die zeitlichen Ressourcen der Pflegenden zu knapp, um die erforderlichen Lern- und Reflexionsprozesse in Gang zu setzen. Dazu kommt, dass immer mehr Pflegende Schwierigkeiten haben, in deutscher Sprache zu kommunizieren. Letzteres ist aber unverzichtbare Voraussetzung, um sich differenziert mit der eigenen Praxis auseinanderzusetzen und mit anderen zusammen zu reflektieren, was wiederum Voraussetzung ist für die Entwicklung einer professionellen und wirksamen Pflege von Menschen mit Demenz.

Diese Probleme haben unterschiedliche Ursachen. Um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen: Die Knappheit der zeitlichen Ressourcen resultiert einerseits daraus, dass immer mehr Stellen in der Pflege nicht besetzt werden können, andererseits aus dem zunehmenden administrativen Aufwand. Auch die zunehmende Komplexität der pflegerischen Aufgaben aufgrund fortgeschrittener Symptomatik bei den Bewohnerinnen und Bewohnern trägt zur Belastung der Pflegenden bei. Die sprachlichen Hürden haben mit einem immer grösser werdenden Anteil von Pflegenden zu tun, welche mangels schweizerischer Pflegekräfte aus dem Ausland rekrutiert werden (müssen).

Wirksame Umsetzung immer weniger möglich

Gemäss Artikel 32 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) müssen die pflegerischen Leistungen, deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen werden, wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein. Wie oben geschildert, ist die Umsetzung wirksamer, zweckmässiger und wirtschaftlicher Leistungen in der Pflege immer weniger möglich. Wir sind zunehmend gezwungen, gegen das Bundesgesetz zu verstossen, indem wir den Pflegenden verunmöglichen, evidenzbasierte Praxis umzusetzen.

Ja, auch die Wirtschaftlichkeit nimmt paradoxerweise durch Einsparungen beim Pflegepersonal Schaden. So ist zum Beispiel erwiesen, dass nach bestimmten Kriterien durchgeführte Beratung und Unterstützung von Angehörigen von Menschen mit Demenz die Heimeintritte um durchschnittlich 11⁄2 Jahre hinausgezögert werden können, bei gleichzeitiger Entlastung und Reduktion der depressiven Symptome der Angehörigen. Dies bedeutet eine massive finanzielle Entlastung der öffentlichen Hand durch die Verkürzung der stationären Pflege sowie durch die Reduktion der Gesundheitskosten, welche überlastete und depressive Angehörige verursachen. Dazu bräuchte es aber genügend viele, hinreichend qualifizierte, hochmotivierte und selbstbewusste Pflegefachpersonen mit den erforderlichen Zeitressourcen.

Mit der Unterstützung der Initiative für eine starke Pflege können Sie viel zur Verbesserung der geschilderten Zu- und Umstände beitragen. Auf dass wir Pflegefachpersonen unsere Arbeit in derjenigen Qualität erbringen können, wie wir es gelernt haben, wie es unser berufliches Selbstverständnis einfordert und wie es das Gesetz vorschreibt.

Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung, freundliche Grüsse und gute Gesundheit

Samuel Vögeli